StPO-Revision: Änderungen im Strafbefehlsverfahren
Der Bundesrat hat am 23. August 2023 beschlossen, die Änderungen der Strafprozessordnung (StPO) auf den 1. Januar 2024 in Kraft zu setzen. Die Revision betrifft unter anderem auch das Strafbefehlsverfahren (Art. 352 ff. StPO). Nachfolgend wird auf insbesondere auf die Einführung von vorgängigen Einvernahmen Beschuldigter eingegangen (Art. 352a revStPO).
Die zentrale Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens für die Strafjustiz zeigt sich daran, dass über 90 Prozent der nicht eingestellten Strafverfahren per Strafbefehl erledigt werden (hierzu Mirjam Stoll, Beschleunigungsstrategien der Strafjustiz: Eine empirische Studie zum Strafbefehlsverfahren in der Schweiz, Opladen/Berlin/Toronto 2018). Laienfreundlich kann man das Strafbefehlsverfahren wie folgt erklären: Die Staatsanwaltschaft, welche das zugrunde liegende Strafverfahren geführt hat, spricht gleich selbst ein Urteil aus und stellt der beschuldigten Person dieses Urteil in Form eines “Strafbefehls” per Post zu. Zu einem Gerichtsverfahren kommt es nur, wenn die beschuldigte Person innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erhebt (Art. 354 Abs. 1 StPO). Statistische Erhebungen zeigen, dass nur in rund jedem zehnten Fall Einsprache erhoben wird (u.a. Marc Thommen et al., Zahlen und Fakten zum Strafbefehlsverfahren, Zürich 2020). Faktisch wird also nur ein Bruchteil der Straftaten von einem Gericht beurteilt. Die prozessökonomische Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens ist entsprechend enorm.
Gleichzeitig läuft die bisherige Konzeption des Strafbefehlsverfahrens dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit zuwider. Rechtsstaatlich läuft das Verfahren nämlich nur ab, wenn Einsprache erhoben und damit eine gerichtliche Beurteilung verlangt wird. Das wird jedoch nur tun, wer den Strafbefehl tatsächlich zur Kenntnis genommen und auch verstanden hat, dass und wie er sich dagegen wehren kann. Die Praxis zeigt, dass weder das eine noch das andere sichergestellt ist: Die ohnehin sehr kurz bemessene Einsprachefrist von 10 Tagen setzt keine effektive Zustellung voraus, sondern beginnt nach einem erfolglosen Zustellungsversuch durch die Post am siebten Tag nach der erfolglosen Zustellung zu laufen (BGE 142 IV 201 E. 2.3). Nach Ablauf der Einsprachefrist erwächst der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (Art. 354 Abs. 3 StPO). Nach geltendem Recht besteht zudem auch keine explizite Pflicht der Staatsanwaltschaft, die beschuldigte Person vor Erlass eines Strafbefehls zu befragen. Beschuldigte, die nicht rechts- und vor allem nicht sprachkundig sind, sind selbst nicht imstande, Inhalt und Tragweite des Strafbefehls zu erkennen. Ohne Einvernahmen (mit Dolmetscher) oder externe Rechtsberatung sind sie völlig auf sich alleine gestellt und können ihre Verfahrensrechte häufig nicht wahrnehmen (zum Ganzen Jascha Mattmann et al., Heimliche Verurteilungen: Empirische Erkenntnisse und konventionsrechtliche Bedenken zur fiktiven Zustellung von Strafbefehlen, ZStrR 3/2021, S. 253 ff.).
In den parlamentarischen Beratungen und Vernehmlassungen wurde diese Problematik thematisiert, jedoch darauf hingewiesen, dass eine generelle Einvernahmepflicht zu einer enormen Mehrbelastung der Staatsanwaltschaften führen würde (vgl. Erläuternder Bericht zur Änderung der StPO, Dezember 2017, S. 41 ff.). Bei der aktuellen Auslastung der Strafverfolger – dank verheerender Ressourcenallokation zulasten der Justiz – erstaunt diese Haltung nicht (https://www.tagesanzeiger.ch/ein-runder-tisch-soll-schweizer-justiz-vor-dem-kollaps-bewahren-198818584304). In der revidierten StPO wurde die Pflicht zur Einvernahme von beschuldigten Personen dementsprechend nur für Fälle eingeführt, in denen eine “zu verbüssende Freiheitsstrafe” zu erwarten ist (Art. 352a StPO). Fakt ist, dass ein Strafbefehl ohnehin nur in Frage kommt, wenn – unter Einrechnung einer allfällig zu widerrufenden bedingten Strafe – eine Freiheitsstrafe von höchstens 6 Monaten ausgesprochen würde (Art. 352 Abs. 1 StPO). Bis zu sechs Monaten respektive 180 Tagessätzen wird im Regelfall jedoch eine Geldstrafe ausgesprochen und nur ausnahmsweise eine kurze Freiheitsstrafe (Art. 41 Abs. 1 StGB). Damit wird es künftig in den allermeisten Fällen weiterhin der Staatsanwaltschaft obliegen, Einvernahmen durchzuführen oder darauf zu verzichten; genau also der Behörde, die ohnehin – mangels ausreichendem Personalbudget – häufig massiv überbelastet ist. Auch die Forderungen nach einer längeren Einsprachefrist blieben ungehört: Es bleibt bei nur zehn Tagen. Es könnte ja sonst zu mehr Einsprachen (und mehr Arbeit) kommen.
Und erneut verpasste man es leider, das Gleichgewicht zwischen Effizienz und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.
Der Bundesrat hat am 23. August 2023 beschlossen, die Änderungen der Strafprozessordnung (StPO) auf den 1. Januar 2024 in Kraft zu setzen. Die Revision betrifft unter anderem auch das Strafbefehlsverfahren (Art. 352 ff. StPO). Nachfolgend wird auf insbesondere auf die Einführung von vorgängigen Einvernahmen Beschuldigter eingegangen (Art. 352a revStPO).
Die zentrale Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens für die Strafjustiz zeigt sich daran, dass über 90 Prozent der nicht eingestellten Strafverfahren per Strafbefehl erledigt werden (hierzu Mirjam Stoll, Beschleunigungsstrategien der Strafjustiz: Eine empirische Studie zum Strafbefehlsverfahren in der Schweiz, Opladen/Berlin/Toronto 2018). Laienfreundlich kann man das Strafbefehlsverfahren wie folgt erklären: Die Staatsanwaltschaft, welche das zugrunde liegende Strafverfahren geführt hat, spricht gleich selbst ein Urteil aus und stellt der beschuldigten Person dieses Urteil in Form eines “Strafbefehls” per Post zu. Zu einem Gerichtsverfahren kommt es nur, wenn die beschuldigte Person innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erhebt (Art. 354 Abs. 1 StPO). Statistische Erhebungen zeigen, dass nur in rund jedem zehnten Fall Einsprache erhoben wird (u.a. Marc Thommen et al., Zahlen und Fakten zum Strafbefehlsverfahren, Zürich 2020). Faktisch wird also nur ein Bruchteil der Straftaten von einem Gericht beurteilt. Die prozessökonomische Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens ist entsprechend enorm.
Gleichzeitig läuft die bisherige Konzeption des Strafbefehlsverfahrens dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit zuwider. Rechtsstaatlich läuft das Verfahren nämlich nur ab, wenn Einsprache erhoben und damit eine gerichtliche Beurteilung verlangt wird. Das wird jedoch nur tun, wer den Strafbefehl tatsächlich zur Kenntnis genommen und auch verstanden hat, dass und wie er sich dagegen wehren kann. Die Praxis zeigt, dass weder das eine noch das andere sichergestellt ist: Die ohnehin sehr kurz bemessene Einsprachefrist von 10 Tagen setzt keine effektive Zustellung voraus, sondern beginnt nach einem erfolglosen Zustellungsversuch durch die Post am siebten Tag nach der erfolglosen Zustellung zu laufen (BGE 142 IV 201 E. 2.3). Nach Ablauf der Einsprachefrist erwächst der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (Art. 354 Abs. 3 StPO). Nach geltendem Recht besteht zudem auch keine explizite Pflicht der Staatsanwaltschaft, die beschuldigte Person vor Erlass eines Strafbefehls zu befragen. Beschuldigte, die nicht rechts- und vor allem nicht sprachkundig sind, sind selbst nicht imstande, Inhalt und Tragweite des Strafbefehls zu erkennen. Ohne Einvernahmen (mit Dolmetscher) oder externe Rechtsberatung sind sie völlig auf sich alleine gestellt und können ihre Verfahrensrechte häufig nicht wahrnehmen (zum Ganzen Jascha Mattmann et al., Heimliche Verurteilungen: Empirische Erkenntnisse und konventionsrechtliche Bedenken zur fiktiven Zustellung von Strafbefehlen, ZStrR 3/2021, S. 253 ff.).
In den parlamentarischen Beratungen und Vernehmlassungen wurde diese Problematik thematisiert, jedoch darauf hingewiesen, dass eine generelle Einvernahmepflicht zu einer enormen Mehrbelastung der Staatsanwaltschaften führen würde (vgl. Erläuternder Bericht zur Änderung der StPO, Dezember 2017, S. 41 ff.). Bei der aktuellen Auslastung der Strafverfolger – dank verheerender Ressourcenallokation zulasten der Justiz – erstaunt diese Haltung nicht (https://www.tagesanzeiger.ch/ein-runder-tisch-soll-schweizer-justiz-vor-dem-kollaps-bewahren-198818584304). In der revidierten StPO wurde die Pflicht zur Einvernahme von beschuldigten Personen dementsprechend nur für Fälle eingeführt, in denen eine “zu verbüssende Freiheitsstrafe” zu erwarten ist (Art. 352a StPO). Fakt ist, dass ein Strafbefehl ohnehin nur in Frage kommt, wenn – unter Einrechnung einer allfällig zu widerrufenden bedingten Strafe – eine Freiheitsstrafe von höchstens 6 Monaten ausgesprochen würde (Art. 352 Abs. 1 StPO). Bis zu sechs Monaten respektive 180 Tagessätzen wird im Regelfall jedoch eine Geldstrafe ausgesprochen und nur ausnahmsweise eine kurze Freiheitsstrafe (Art. 41 Abs. 1 StGB). Damit wird es künftig in den allermeisten Fällen weiterhin der Staatsanwaltschaft obliegen, Einvernahmen durchzuführen oder darauf zu verzichten; genau also der Behörde, die ohnehin – mangels ausreichendem Personalbudget – häufig massiv überbelastet ist. Auch die Forderungen nach einer längeren Einsprachefrist blieben ungehört: Es bleibt bei nur zehn Tagen. Es könnte ja sonst zu mehr Einsprachen (und mehr Arbeit) kommen.
Und erneut verpasste man es leider, das Gleichgewicht zwischen Effizienz und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.